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Theologie als Erzählung – erzählte Theologie: Das Heptameron
Religiöse Aspekte in den Novellen der Marguerite d'Angoulême, Königin von Navarra (1492–1549)
Diese Dame wird in der Forschung meist als die französische Königin von Navarra identifiziert, die sich Geschichten anhört und auch selbst gerne erzählt. Ihr Spätwerk „Das Heptameron“ besteht aus 72 Erzählungen, von einer Rahmenhandlung zusammengehalten. Diese Rahmenhandlung fängt mit einem Prolog an. Dieser schildert, wie eine vornehme, aus zehn Damen und Herren zusammengesetzte Gesellschaft in den Pyrenäen vom Unwetter gezwungen wurde, in einem Kloster Schutz zu suchen, und diesen unfreiwilligen Aufenthalt dazu nutzte, mit Geschichtenerzählen die Zeit zu verbringen. Nach jeder Erzählung folgte eine Debatte über das Gehörte, und im Laufe der Tage wurden diese Debatten immer länger und interessanter.
Es war natürlich die Absicht der Königin zu unterhalten, aber darüber hinaus auch ihre ZuhörerInnen zum Nachdenken zu bringen. Die Debatten sollten die religiösen und ethischen Inhalte der Erzählungen aufzeigen. Vermochten die Novellen zu bewegen, konnten die Debatten belehren.
Das Heptameron analysierten vor Allem Romanisten und Historikern, kaum Theologen, weshalb die Frömmigkeit der Königin, die in ihrem Werk zum Ausdruck kommt, kaum betrachtet wurde. Wir wissen, dass Marguerite d´Angoulême zeit ihrer Jugend sich für religiöse Fragen brennend interessierte, dass sie von den französischen, katholischen Reformbestrebungen beeinflusst war und dass sie Protestanten und Freidenkern nach Kräften half und Asyl gewährte. Wir wissen allerdings auch, dass Calvin sich stets wünschte, sie möge sich offen zur Reformation bekennen, und dass sie dennoch katholisch blieb.
Aus diesen Gründen soll hier der Versuch unternommen werden, ihre Theologie näher zu beleuchten. Viele Novellen und Debatten im Heptameron sind theologisch hoch interessant und können die vielen reformatorischen Elemente in ihrer Religiosität, die bislang kaum beachtet wurden, gut beleuchten. Gleichfalls soll untersucht werden, welche theologischen Überzeugungen die Königin im katholischen Glauben festhielten.
Die Forschung geht meistens davon aus, dass sie als Schwester des Königs aus politischen Gründen altgläubig blieb. Diese politischen Überlegungen waren m.E. bestimmt für sie wichtig, dennoch wird eine so kluge und fromme Dame wie die Königin von Navarra mit Sicherheit auch schwerwiegende theologische Gründe für ihr Verbleiben im katholischem Glauben gehabt haben.
Marguerite d´Angoulêmes literarisches Schaffen umfasst religiöse Gedichte, Schauspiele und eben das Heptameron. Ein Forscher wie Lucien Febvre (1878 - 1956) wundert sich, warum die Königin in ihrer Jugend fromme Gedichte schrieb und im Alter erotische Erzählungen. Am Ende gibt er doch die Einheit ihrer Persönlichkeit und ihrer Religiosität zu. Ihre Erzählungen nur als leichtsinnige Unterhaltung zu deuten, ist jedoch ein Kurzschluss.
Da die meisten Forscher der Liebesbegriff bei Marguerite untersucht haben, und da sie die Liebe ganz anders schildert, als wir es heutzutage gewohnt sind, soll hier zuerst ihre Schilderung der Liebe und der Sexualmoral kurz vorgestellt werden, bevor die Theologie ihrer Erzählungen dargestellt wird.
Von der Liebe und anderen Gewalttaten
„Aber Geburon [Guebron] hielt ihr entgegen, solange die Welt bestehen werde, trügen sich auch Ergebnisse zu, die denkwürdig und erzählenswert sein…“ (Debatte 50 >>>)
Marguerite schrieb über das Verhältnis zwischen den Geschlechtern und schilderte dabei oft Gewalt, Überfälle, List und Betrug. Manchmal ließ sie die Liebenden vor Kummer sterben oder ins Kloster gehen, nur äußerst selten erzählte sie Geschichten von glücklichen Liebenden. Den Grund hierfür muss man nicht lange suchen: die Gesellschaft verlangte eine Doppelmoral, die eher zu Verzweiflung und Gewalttätigkeit als zu erfüllter Liebe führte.
Die Frauen hatten die Aufgabe, ihre Ehre und Keuschheit zu bewahren – das galt natürlich auch für verheiratete Frauen. Sie konnten „serviteurs“ (=Diener) haben, und mit diesen aufwartenden Kavalieren durften sie flirten, mehr nicht. In die Ehe sollten sie als Jungfrauen eintreten und ihrem Ehemann, ob sie ihn nun liebten oder nicht, absolute Treue wahren. Die Männer dagegen setzten ihren ganzen Stolz darauf, möglichst viele Frauen zu erobern. Ein richtiger Mann akzeptierte kein nein und war der Ansicht: „kommst du nicht willig, dann brauch´ ich Gewalt“, denn es war eine Kränkung seiner Ehre, zurückgewiesen zu werden. Es wird in den Novellen von Jägern und Gejagten, von Belagerungen und zu erobernden Städten gesprochen, kurzum, die Männer betrachteten die Frauen als Freiwild.
Auch platonische Liebe kommt in den Novellen vor, einer der Erzähler namens Dagoucin vertritt in der Runde stets die Ansicht, die Männer hätten die Frauen zu lieben und zu respektieren, indem sie ihnen nicht einmal ihre Liebe gestehen, sondern sie auf Abstand stumm und ergeben anbeteten. Dagoucin wird von den anderen Männern in der Erzählerrunde ausgelacht und verhöhnt, und selbst die Frauen bezweifeln den Wert dieser vergeistigten Liebe. Eine der Frauen, Parlamente, schildert das platonische Konzept, wonach die Liebe in der irdischen Bewunderung des Schönen und Guten anfängt, um sich dann zu Gott emporzuschwingen als dem einzig wahren Schönem und Gutem, als dem höchsten Gut überhaupt. Nach dieser Auffassung ist die irdische Liebe nur eine Art des Einübens in die wahre, religiöse Liebe. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Königin die platonische Philosophie aus Italien kannte und dafür sorgte, dass Platon ins Französische übersetzt wurde.
Die Rahmenhandlung stellt Parlamente und ihren Gatten Hircan als reifes, liebendes Paar dar, obwohl die anderen Frauen Parlamente warnen, ihr Ehemann betrüge sie. Die Erzählerin der Rahmenhandlung deutet an, dass eine vornehme Ehefrau sich davon nicht aus der Fassung bringen lassen soll. Ihr Ansehen und soziale Stellung würden davon nicht betroffen.
Die Andachten der Frau Oisille
Die Königin möchte mit ihren Novellen nicht nur die Liebe oder den Kampf der Geschlechter schildern, sondern als eine zutiefst fromme Frau auch das Verhältnis der Menschen zu Gott beschreiben. Deswegen sind ihre Novellen keineswegs nur als galante Abenteuer aufzufassen, sondern als Beispiele für menschliches Verhalten – oft abschreckende Beispiele. Wie der Erzähler Geburon [Guebron] sagt:
„Denn die Arglist der schlechten Menschen ist immer noch so wie zuvor, wie auch die Güte der guten Menschen dieselbe bleibt. Solange Bosheit und Güte auf Erden herrschen, werden auch immer wieder neue Taten begangen, obwohl geschrieben steht, es gebe nichts Neues unter der Sonne. Doch uns, die wir nicht zu Gottes geheimen Rat berufen worden sind und den Ursprung der Dinge nicht kennen, kommen alle Dinge um so wunderbarer vor, je weniger wir sie vollbringen möchten oder könnten.“ (A.a.O. >>>)
Die Zuhörenden dieser Geschichten sollten nicht nur unterhalten werden, sie sollten sich empören, Mitleid empfinden, und zur Nachdenklichkeit angeregt werden. Mit diesen Mitteln wollte die Verfasserin ihren Zuhörern und Lesern über die menschliche Schwäche und die unermessliche Gnade Gottes aufklären. Wie jede gute Predigerin wusste sie sehr wohl, dass schockierende und abschreckende Beispiele bestens geeignet sind, Zuhörer aufzurütteln und nachdenklich zu stimmen. Schon die mittelalterlichen Prediger wussten von der Effektivität der „Exempla“, der Beispiele, die Pointen ihrer Predigten hervorzuheben. Die bestens ausgebildete Marguerite war außerdem überzeugt, dass man die Offenbarung Gottes nicht nur in der Bibel, sondern auch in der Welt erkennen und am Benehmen der Menschen „ablesen“ könne. Die Novellen sollten den Zuhörern und Lesern beibringen, die menschliche Gebrechlichkeit und die Barmherzigkeit Gottes zu begreifen und zu schätzen.
Wie oben gesagt, beginnt die Rahmenhandlung mit einem Prolog. Als die Gruppe sich überlegt, was sie zusammen machen könne, berichtet die älteste Frau der Gesellschaft, die Witwe Oisille, von ihrer Bibellektüre, und wird daraufhin von Hircan, der wohl dem Gatten der Marguerite, König Heinrich II. von Navarra, ähnelt, dazu aufgefordert, jeden Tag mit einer Andacht zu beginnen. Danach kann die Gruppe sich am Nachmittag dann Geschichten erzählen. Diese Andachten nehmen im Laufe der Tage an Wichtigkeit zu, so dass man in der Forschung urteilen kann, die Rahmenhandlung sei der eigentliche Roman, und die Geschichten seien nur Füllstoff. Dann wäre das Heptameron als ein Bildungsroman aufzufassen, der die religiöse Entwicklung der Gruppe beschreibt.
Die Bibelarbeit fängt mit dem Römerbrief an, um dann die Apostelgeschichte und den ersten Johannesbrief zu behandeln – ein ehrgeiziges Unterfangen für zehn Tage, von denen uns nur acht Tage erhalten sind. Die TeilnehmerInnen sind dankbar für die geistige Nahrung, die Oisille darbietet, und gehen danach in die Messe.
Abgesehen davon, dass Frau Oisille mit dem Römerbrief ein Kernstück evangelischen Glaubens behandelt, fällt auch auf, dass eine Frau die Andachten hält. Sie bereitet sich sehr gründlich vor, steht früh auf und ihre Auslegung der heiligen Schrift begeistert alle.
„(Sie) baten Madame Oisille, ihnen wie gewohnt, geistige Nahrung zu spenden. Das tat sie, behielt aber die Gesellschaft länger zurück als zuvor; denn sie wollte…die erste Epistel des heiligen Johannes noch zu Ende auslegen. Das machte sie so vortrefflich, daß es war, als spräche der heilige Geist voll Liebe und Sanftmut aus ihrem Munde. Ganz entflammt von diesen Feuer, begaben sie sich alle in die Messe und gingen hernach zum Mittagsmahl…“ (Prolog, 8. Tag >>>)
Hier spricht eine Frau, so dass man glaubt, den heiligen Geist aus ihrem Mund zu hören, und sie spricht sowohl Männer als auch Frauen an. Wie ungewöhnlich das ist, kann man von Marie Dentière erfahren, die an Marguerite von Navarra schrieb, es müsste doch erlaubt sei, dass Frauen einander die Bibel auslegen (vgl. Nielsen, Marie Dentière >>>). Marie Dentière wurde wegen ihrer Kühnheit von Calvin gerügt, aber die Königin übertraf sie, indem sie die ganze Gruppe aus Männern und Frauen der Frau Oisille zuhören ließ.
Außerdem war es seit Jahren verboten, sich in Konventikeln zu versammeln, um die Bibel zu lesen. Das galt als gefährliche protestantische Sitte. Die konservativen Theologen von Paris hatten schon 1525 ein Verbot der Bibellektüre und der Bibelarbeit in Gruppen durchgesetzt. Das traf unter anderen die Reformkatholiken von Metz hart, weil die Bibelübersetzungen des Lefèvre d´Etaples als ketzerisch verboten wurden. Nirgendwo sagt die Verfasserin des Heptamerons, die Gesellschaft sei protestantisch, dennoch sind die Andachten bei Frau Oisille doch deutlich aus dem protestantischen Geist gewachsen, wie auch die Bemerkung Hircans im Prolog: „Madame, wer die Heilige Schrift gelesen hat, wie wir alle, glaube ich, getan haben…“ - die Bibel lasen damals eigentlich nur die Protestanten, ganz diskret wegen des obengenannten Verbots.
Überhaupt wird Frau Oisille als eine protestantische Frau beschrieben; der Prolog schildert, wie sie sich zum Wallfahrtsort Notre-Dame de Sarrance begibt:
„Doch eine Dame, eine lebenserfahrene Witwe namens Oisille, entschloss sich, alle Furcht vor den ungangbaren Wegen hintanzusetzen, bis sie nach Notre-Dame de Serrance gelangt wäre. Nicht etwa daß sie so abergläubisch gewesen wäre anzunehmen, die hochheilige Gottesmutter hätte ihren Sitz zur Rechten ihres gebenedeiten Sohnes verlassen und wäre in diese Einöde herniedergestiegen, sondern einzig und allein aus Verlangen, diesen frommen Ort zu sehen, von dem sie soviel gehört hatte. Auch vertraute sie darauf, daß die Mönche, wofern es eine Möglichkeit gab, der Gefahr zu entrinnen, sie gewißlich finden würden.“ (Prolog >>>)
Als das „Heptameron“ 1559 gedruckt erschien (siehe Anhang I >>>), wurde die kursiv gesetzten Zeilen als zu eindeutig protestantisch weggelassen. Der Hinweis auf den katholischen Aberglauben, die Betonung, dass Oisille keineswegs pilgere, so wie die Bemerkung über die Jungfrau, die im Himmel bleibt – alles dies bezeugt eindeutig protestantisches Gedankengut, was der erste Verleger auch als solches erkannte.
Der leichte Spott über die Mönche wurde dagegen nicht als unkatholisch empfunden, und die Verfasserin war in bester humanistischer Gesellschaft, wenn sie die Mönche kritisierte. Der gute Katholik Erasmus war längst mit beißendem Spott über die Mönche hergezogen. Vor Allem kritisierte die Königin die Bettelmönche, die Franziskaner, aber sie erwähnte in den Geschichten auch immer wieder, dass sie und ihre Familie die Klöster reformiert hatten. Nicht das Mönchswesen als solches, sondern den Missbrauch prangerte Marguerite d´Angoulême an.
Als die ganze Gruppe alle mögliche Gefahren von wilden Tieren, Räubern und Hochwasser entronnen sind, fingen sie an sich zu überlegen, wie sie die Zeit vertreiben sollten, bis eine Brücke gebaut worden sei, und fragten Frau Oisille, was sie vorschlagen möchte. Sie erzählte dann von ihrer täglichen Bibellesung:
„Und fragt ihr mich, welche Lebensweise mich in meinem hohen Alter noch so heiter und gesund erhält, so laßt euch sagen: es ist nur meine Gewohnheit, sogleich, wenn ich erwache, die Heilige Schrift zur Hand zu nehmen und darin zu lesen. Und wenn ich dann Gottes Güte sehe und erwäge, daß er für uns seinen Sohn auf Erden gesandt hat, damit er uns dieses heilige Wort und die frohe Botschaft verkünde, durch welche er Vergebung aller Sünden, Tilgung aller Schuld durch das Gnadengeschenk seiner Liebe, seiner Leiden und seines Opfertodes verheißt, dann erfüllt mich diese Betrachtung mit so tiefer Freude, daß ich mein Psalter nehme und demutsvoll mit Herz und Mund die schönen Psalmen und Lieder singe, die der Heilige Geist David, dem Psalmisten und den anderen Dichtern eingegeben hat. Und die Zufriedenheit, die ich daraus schöpfe, tut mir so wohl…“ (Prolog >>>)
Am Abend tut sie ähnlich, aber ihr Ratschlag an die Jüngeren lautet dann so:
„Mir scheint, wenn ihr allmorgendlich eine Stunde mit der Heiligen Schrift verbringen und hernach in der Messe fromm euer Gebet verrichten wolltet, dann würdet ihr in dieser Einöde solche Schönheit finden…“ (Prolog >>>)
Man sieht, Frau Oisille liest nach guter protestantischer Art ihre Bibel, sie weiß, dass die Vergebung der Sünden allein aus Gnaden stammt, sie singt ihre Psalmen (siehe Anhang III >>>) und doch empfiehlt sie den Anderen, ihre Gebete in der Messe zu verrichten. Was ist sie nun, katholisch oder protestantisch? Calvin würde sie eine Nikodemitin nennen nach Art von Nikodemus (Johannes 3,1-21), der nachts sich zu Jesus heranschlich, benennen, womit er Leute meinte, die der Auffassung seien, sie könnten sich aussuchen, was ihnen in der christlichen Lehre gefalle und müssten niemals wählen oder gar Stellung beziehen(siehe Anhang II >>>).
Nach den theologischen Überlegungen im Prolog, wenden wir uns jetzt den einzelnen Novellen zu.
Die zweite Novelle
Die zweite Novelle erzählt Oisille. Sie ist eine traurige, erschütternde Geschichte. Aber gerade solche benutzt die Autorin immer wieder, um über Gnade, Rechtfertigung durch Glauben und die Erwählung Gottes nachzudenken.
Kurz erzählt handelt die Novelle von der Frau eines Maultiertreibers, die in der Abwesenheit ihres Mannes von ihrem Knecht überfallen wird. Die keusche Frau versucht, der Vergewaltigung zu entgehen, aber der Knecht sticht sie mit seinem Degen nieder, vergewaltigt ihren fast leblosen Körper und flieht. Die Frau lebt gerade noch so lange, dass sie ihre Seele Gott anvertrauen kann, und stirbt dann. In der Diskussion über die Tapferkeit, Keuschheit und Wehrhaftigkeit der Frau sagt Oisille:
„Deshalb müssen wir in Demut verharren; denn Gott verleiht seine Gnade den Menschen nicht nach ihrem Stand oder Reichtum, sondern wie es ihm in seiner Güte gefällt. Er kennt kein Ansehen der Person, vielmehr erwählt er, wen er will, und wen er erkoren hat, den ehrt er mit seinen Tugenden. Und oftmals erwählt er ein niedrig Geschöpf, um die zu beschämen, die in der Welt für hoch und ehrenvoll gelten. Sagt er doch selbst: Freuen wir uns nicht unserer Tugenden, sondern dessen, daß wir im Buch des Lebens eingeschrieben sind, aus dem uns nicht Tod noch Hölle und Sünde ausstreichen können.“ (Novelle 2 >>>)
Dieser letzte, kursiv gesetzte Satz wurde aus der 1559 gedruckte Ausgabe entfernt, weil er zu reformiert klang, aber der ganze Abschnitt ist durch und durch reformiert geprägt. Zum Ersten ist hier von der Rechtfertigung durch den Glauben die Rede, man hört Römer 2,11 durch. Danach folgt eine Anspielung auf 1. Korinther 1,27-28. Das Buch des Lebens, wo die Namen der Erwählten unauslöschlich eingeschrieben sind, ist ein Zitat aus der Apokalypse 20,15 und 21,27. Die ganze Passage ist durchzogen von Bibelzitaten. Der Gedanke, dass wir nicht wegen unserer Tugenden von Gott erwählt werden, sondern, dass Gott erwählt, wen er will, und dass nichts den Erwählten von Gott trennen kann, ist reformierte Theologie, so wie sie damals in Frankreich gepredigt wurde. Die Verfasserin erweist sich als sehr bibelfest.
Im französischen Originalton kommt die Erwählung noch stärker durch:
“Car les graces de Dieu ne se donnent point aux hommes, pour leurs noblesse ou richesses, mais selon qu´il plaist à sa bonté, qui n´est point accepteur de personne, lequel eslit ce qu´il veult. Car ce qu´il a esleu, l´honore de ses vertuz, et le couronne de sa gloire. Et souvent eslit choses basses, pour confondre celles que le monde estime haultes et honorables. Comme luy mesme dict, ne nous rejouïssons point en noz vertuz: mais en ce que nous sommes escriptz au livre de la vie, duquel ne nous peut effacer mort, enfer, ne peché.“
Man sieht an meinen Hervorhebungen, wie oft einen Form des Verbum „élire“ = erwählen vorkommt. Aus der deutschen Übersetzung geht es nicht ganz so klar hervor.
Novelle 23
Auch die tragische Novelle 23 handelt von Gewalt, Betrug und Verirrungen. Außerdem gehört sie zu den zahlreichen Novellen, die von den Missetaten der Franziskaner berichten.
Kurz erzählt: Ein Barfüßermönch besucht einen Edelmann, dessen Frau kürzlich entbunden hat. Weil der Edelmann fromm und kirchentreu ist, fragt er den Mönch, ob er schon wieder mit seiner Frau schlafen darf, denn die Kirche sah bekanntlich eine Wöchnerin als unrein an. Der Mönch erlaubt es ihm, sorgt aber dafür, ein paar Stunden vorher unerkannt die Frau in ihrem Bett aufzusuchen, die nichtsahnend nachher ihren Mann fragt, warum er schon zum zweiten Mal komme? Der Mönch hat sich längst aus dem Staub gemacht, aber während der gekränkte Gatte ihn verfolgt, bringt die junge Frau sich aus Scham und Verzweiflung um, und durch einen Missgeschick nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Sohn in der Wiege. Ihr Bruder entdeckt die beiden Toten, glaubt der Schwager habe sie umgebracht, setzt ihm nach und tötet ihn, doch nicht ohne vorher von dem verwundeten Schwager den richtigen Tatbestand erfahren zu haben.
Auch diese Geschichte stammt aus dem Mund der Frau Oisille, die eine Vorliebe für solche Erzählungen zu haben scheint, so wie sie niemals unterlässt, die religiöse Moral daraus zu ziehen:
„Die junge Frau blieb allein in ihrem Bett und hatte keinen Rat und Trost als nur ihr kleines neugeborenes Kind. Sie bedachte den gräßlichen und sonderbaren Fall, der ihr zugestoßen war, und kam, ohne ihre Unwissenheit als Ausrede gelten zu lassen, zu dem Schluß, sie sei schuldig und die unseligste Frau der Welt. Sie hatte von den Franziskanermönchen nie etwas anderes gelernt, als daß man auf gute Werke bauen und seine Sünden durch ein strenges Leben, durch Fasten und Kasteien büßen müsse, und wußte nichts von der Gnade, die uns unser gütiger Gott durch den Kreuzestod seines Sohnes geschenkt hat, von der Vergebung der Sünden durch sein Blut, von der Versöhnung Gottvaters mit uns durch seinen Tod, von dem Leben, das den Sündern einzig durch seine Allgüte und Barmherzigkeit geschenkt wird. So übermannte sie die Verzweiflung…“ (Novelle 23 >>>)
Dieser Angriff, nicht auf das Leben, sondern auf die Lehre der Bettelmönche wurde in der Ausgabe von 1559 gestrichen. Es ist paulinische Lehre, Römer 3,23-25; 4, 5-6, und ist zunächst nicht anders, als was Erasmus, Lefèvre d´Etaples oder Bischof Briçonnet in Meaux in den Jahren von 1520-1524 hatte predigen lassen. Der Bischof hatte übrigens damals die Franziskaner mit Predigtverbot belegt, um seinen eigenen humanistisch orientierten Priester predigen zu lassen, aber in den Jahren um 1540 und später, als Marguerite das Heptameron schrieb und redigierte, wusste sie natürlich sehr wohl, dass die Rechtfertigung allein aus Gnade reformatorische Lehre sei. Während sie in vielen Novellen die schlechte Lebensführung der Bettelmönche anprangerte, war der Angriff in Novelle 23 viel ernster, denn hier wurde die Lehre angegriffen und dafür angeklagt, die Leute in Verzweiflung zu treiben. Ab und zu trifft man unter zeitgenössischen Theologen die Auffassung, die Rechtfertigungslehre sei eine zu pessimistische Beurteilung der Menschen und ihrer Kräfte, so Diarmaid McCulloch in seinem Buch „Die Reformation 1490 – 1700“ (deutsch 2008). Die Novellen im Heptameron zeigen hingegen eher, welche befreiende Kraft von der Lehre von der Gnade Gottes ausging.
Es ist auffallend, dass keine der beiden Novellen, 2 und 23, die irdische Gerechtigkeit erwartet. In beiden Fällen kommen die Übeltäter davon, während sie Mord und Verzweiflung hinter sich lassen. Verbrechen werden wenig geahndet im Heptameron, aber ab und zu, wenn man Glück hatte, schritt die königliche Familie ein, rettete die Unschuldige und bestrafte die Übeltäter. Die Königlichen, die Regentin Louise von Savoyen, Marguerite von Angoulême und natürlich Franz I., treten als „deus ex machina“ auf, damit die Gesellschaft wieder funktionieren konnte. Marguerites Rolle in vielen Novellen war, Klöster zu reformieren und Ordensleuten zu helfen oder zu bestrafen, eine Aufgabe, die sie auch im wirklichen Leben wahrnahm.
In den Novellen entsteht eine verschachtelte Konstruktion: Ein Erzähler – oder eine Erzählerin – berichtet im Prolog und in den Rahmenhandlungen sowie in den Debatten der einzelnen Tagen über eine Gruppe Edelleute, die sich Geschichten erzählen. Im Prolog und in den Geschichten wird wiederum oft vom Hofe erzählt, und hier tauchen die Königin und ihre Familie namentlich auf – in einigen Novellen auch anonymisiert, aber dennoch leicht erkennbar wie in Novelle 62 oben >>>. Marguerite als Verfasserin ist folglich nicht unbedingt identisch mit dem/der VerfasserIn der Prologe und Debatten, noch ist sie identisch mit einer der ErzählerInnen, sondern kann als Person in den Erzählungen vorkommen. Wir haben es folglich mit einer raffiniert konstruiertem Kunstwerk zu tun, und wenn wir z.B. die reformierten Ansätze bei Frau Oisille bemerken, müssen wir immer bedenken, dass diese theologischen Aussagen nicht unbedingt die Ansichten von Marguerite wiedergeben. Mehr dazu später, wenn die Gestalten der Erzähler behandelt werden.
Novelle 67
Die folgende Novelle 67 >>> ist eine geschichtliche Novelle, die auf einer wahren Begebenheit beruht, jedoch wieder reformierte Theologie betreibt. Sie handelt von einer Expedition nach Kanada, wo ein Mann und eine Frau auf einer einsamen Insel vor der kanadischen Küste ausgesetzt werden. Später wird die Frau noch lebend gefunden und zurück nach Frankreich gebracht.
Diese Geschichte beruht auf einer wirklichen Begebenheit (siehe Anhang IV >>>): Franz I. hatte seit 1524 verschiedene Expeditionen nach Amerika ausrüsten lassen. 1541-42 ließ er den Kapitän François de la Roque, Sieur de Roberval, es mit ein paar Schiffen versuchen, Kanada – das hier noch eine Insel genannt wird! – zu besiedeln. Mit an Bord waren Edelmänner und –frauen, Handwerker und auch zum Teil Gefängnisinsassen, die eine Chance für ein neues Leben bekommen sollten. Diese Expedition führte nicht zu sehr viel, die Kolonie musste aufgegeben werden, da der kanadische Winter zu lang und hart war. Unter den Frauen an Bord war auch eine Verwandte des Kapitäns, Marguerite de la Roque, die sich in einem jungen Mann verliebte, und als Strafe auf einen Insel vor der Küste Labradors – es handelt sich um die Île de la Demoiselle, heute unter den Harrington Islands zu finden - ausgesetzt wurde. Nachdem die junge Dame mit ihrer Amme dorthin gebracht worden war, schloss der junge Mann sich ihnen an. Sie wohnten dort, bis erst der junge Mann starb, dann ein gemeinsames Kind und schließlich die Amme. 1544 – nach zweieinhalb Jahren auf der Insel - wurde die Frau von französischen Fischern gefunden und zurück nach Frankreich gebracht.
Die Novelle >>> macht aus dem Liebespaar ein Handwerkerehepaar. Der Mann begeht einen Verrat und die Frau folgt ihm in die Verbannung. Die Frau hat ein Neues Testament bei sich:
„Und da sie einzig in Gott Trost fand, trug sie ständig als Schutz und Schirm, als Erquickung und Trost das Neue Testament bei sich, in dem sie unablässig las.“
Die Kirche, die Priester und die Sakramente sind nicht wirklich notwendig, solange dass sie eine Bibel hat und damit kann die Frau priesterliche Funktionen übernehmen:
„…daß er (der Mann) bald darauf starb, nur von seiner Frau gewartet und getröstet, die ihm als Arzt und Beichtiger diente, so daß er freudig aus dieser Einöde in die himmlische Heimat überging.“
Nach seinem Tod musste sie alleine weiterleben:
„So lebte sie, was ihren Leib betraf, ein tierisches Leben, hinsichtlich ihrer Seele aber fromm und rein wie ein Engel und verbrachte ihre Zeit mit Lesen, Beten, Andachten und fromme Betrachtungen und behielt ein frohes und zufriedenes Gemüt in einem abgezehrten und halb toten Leib. Doch er, der die seinen nicht verläßt und, wenn alle verzweifeln möchten, seine Macht zeigt, ließ es nicht zu, daß die Tugend, die er dieser Frau verliehen hatte, den Menschen verborgen bleibe, sondern wollte, daß sie zu seinem Ruhm bekannt werde.“
Endlich wird sie von einer der Expeditionsschiffe gefunden und nach La Rochelle verbracht, wo sie als Lehrerin bei den Damen der Stadt hoch geehrt weiterlebt.
Im Prolog hatte Parlamente vorgeschlagen, sie sollten nach Art des „Dekameron“ von Boccaccio, der am Hofe so geschätzt wurde, Novellen erzählen. Boccaccio hatte eine Gesellschaft von zehn jungen Männern und Frauen auf der Flucht vor der Pest in Florenz, in zehn Tagen insgesamt hundert Novellen erzählen lassen. Am französischen Hof wollte man es ihm ähnlich machen, „doch sollte zum Unterschied von Boccaccio keine Novelle aufgezeichnet werden, die nicht auf einer wahren Begebenheit beruhte“ und deshalb meinte Parlamente, dass die Gruppe sich an die historische Wahrheit halten sollte: „jeder erzählt eine schöne Geschichte, die er selbst erlebt hat oder von einem vertrauenswürdigen Mann gehört hat.“
Novelle 67 >>> ist, wie wir gesehen haben, eine solche wahre Geschichte, erzählt von einem der Herren, Symontault:
„Da ich nun sehe, daß das schwache Geschlecht einer Tat fähig ist, die gemeinhin über die Kraft einer schwachen Frau geht, nehme ich das zum Anlaß, euch zu erzählen, was ich vom Kapitän Robertval und mehreren seiner Begleiter gehört habe“.
Dennoch erlaubte die Königin als Verfasserin des Heptamerons es sich, in die Geschichte gestaltend einzugreifen. Unter ihrer Feder soll die Geschichte die Vorsorge Gottes schildern:
„Das wäre ihnen (scil. den Rettern) schier unglaublich vorgekommen, hätten sie nicht gewußt, daß Gott auch in einer Wüste seine Diener ebenso zu ernähren vermag wie bei den üppigsten Festmählern der Welt.“
Die Frau zeigte eheliche Treue, sie blieb fest im Glauben, und wichtig ist, dass ihr das Neue Testament völlig reichte, um den Mann zu trösten, als er sterben musste, und um sich selbst zu erhalten. Einen typisch protestantischen Frömmigkeitstyp führt Marguerite uns vor Augen: sola scriptura! Die Bibel allein ist ausreichend für die Gläubigen. Priester und Sakramente sind überflüssig, und der Mann kommt in die Himmel, nachdem er seiner Frau gebeichtet hat, ohne Sterbesakrament. Zu der Zeit, als Marguerite schrieb, erkannte man unter Anderem Protestanten daran, dass sie nicht den Priester für das Sterbesakrament holen ließen. Damit ist die Erzählung nicht länger ein Bericht von einer tapferen jungen Frau, sondern eine erbauliche Geschichte von Gottvertrauen und Gottes Hilfe in der Not. Man bemerke auch, dass die Tugenden der Frau ihr von Gott geschenkt sind: Gott allein die Ehre – eine typisch protestantische Haltung!
Über die ErzählerInnen
Ich habe die religiösen Inhalte der Erzählungen hervorgehoben, es muss aber hinzugefügt werden, dass die Königin keineswegs prüde war. Sie ließ einige Männer derbe Geschichten erzählen, und eine junge Frau, wie die Erzählerin Nomerfide, konnte recht grobe Späße berichten.
Man hat in der Forschung allgemein angenommen, dass ihre ErzählerInnen historische Personen des navarresischen Hofes darstellen, dass Parlamente Marguerite selbst sei, und Hircan der König Henri d´Albret, ihr Gemahl, Oisille ihre Mutter Louise von Savoyen. Kurzum, alle die eigenartigen Namen der ErzählerInnen sollten Anagramme sein, wie man sie im 16. Jahrhundert in höfischen Kreisen gerne bildete. Nun wissen wir, dass Louise von Savoyen in der Zeit ihrer Regentschaft die Protestanten hart verfolgte. Das passt nicht so recht zu der Frömmigkeit der Oisille. Betty Davis hat in ihr Studie über die ErzählerInnen klar gezeigt, dass die familiären Verbindungen unter den Personen, die zu den historischen Persönlichkeiten passen sollten, komplett fehlen. Daher muss man annehmen, dass die ErzählerInnen nicht den Persönlichkeiten in der Umgebung der Königin nachgebildet wurden. Marguerite schrieb in ihren letzten Lebensjahren, neben dem Heptameron eine Reihe von Schauspielen, meistens mit klaren Charakteren: die weise Frau, die Mondäne, die Abergläubische usw. Da die Debatten im Heptameron reine Dialoge sind und da die Autorin die ErzählerInnen mit diesen Dialogen trefflich charakterisiert, so dass man irgendwann meint, diese Leute zu kennen, und schließlich das Heptameron liest, um zu erfahren, was sie zu den Geschichten meinen und sagen, sind die ErzählerInnen m.E. Kunstfiguren, Typen, die Marguerite verwendet, um zu zeigen, wie sie die Erzählungen interpretiert haben möchte. So werden im Laufe der Tage die Geschichten immer kürzer und die Debatten immer interessanter.
Es gibt innerhalb des Heptamerons sogar einen Hinweis darauf, dass die Königin mehr wollte als „nur“ Geschichten erzählen: Im Epilog zum zweiten Tag wird berichtet, wie die Gesellschaft, die sich zur Vesper in der Kirche eingefunden hat, feststellen muss, dass die Mönche sich verspätet haben, weil „sie sich bäuchlings hinter einer dicken Hecke in einen Graben gelegt“ hatten, um den Geschichten zuzuhören. Es wird ihnen dann gestattet, bequem hinter der Hecke zu sitzen, um dabei zu sein. Am dritten Tag diskutiert die Gruppe eifrig und lange eine Erzählung:
„’Aber ihr achtet ja gar nicht auf das, was ich sehe’ rief auf einmal Hircan. ‚Während wir uns nämlich unsere Geschichten erzählten, haben die Mönche hinter jener Hecke die Vesperglocke völlig überhört, und jetzt, da wir von Gott zu sprechen angefangen haben, sind sie auf und davon und läuten eben zum zweiten Mal.’“ (Novelle 30 >>>)
Die einfältigen Mönche hören sich gerne die erotischen Erzählungen an, aber, wenn dann die Interpretation folgt, und die Gruppe die religiöse Moral, die in der Geschichte steckt, herausarbeitet, langweilen sie sich und laufen davon. Nur über die Diskussionen eröffnet sich der tiefere Sinn der Erzählungen, und nur dort kommen solche Sätze vor:
„…denn all das Böse, das wir hier von Männern und Frauen sagen, wird nicht zur besonderen Schande derer gesagt, von denen die Geschichten handeln, sondern um mit der Überschätzung des Vertrauens in der menschliche Kreatur aufzuräumen, indem wir die Schwächen zeigen, denen sie unterworfen ist, auf daß unsere Hoffnung sich auf Gott allein stütze, der vollkommen ist und ohne den jeder Mensch eitel Unvollkommenheit ist.“ (Debatte Novelle 48 >>>)
Oder: „Gerade die Frauen, die am wenigsten darüber zu sprechen vermögen, fühlen am besten Gottes Liebe und Absicht. Darum soll man nur über sich selbst richten.“ (Debatte Novelle 65 >>>; Hervorhebung der Verfasserin).
Die letzten Worte zeigen die Toleranz der Königin und könnten als Motto über das ganze Heptameron stehen.
„Wie lange hinket ihr auf beiden Seiten?“
Mit Worten des Propheten Elias drang Calvin die Sympathisanten der Reformation zu mehr Entschlossenheit: "Wie lange hinket ihr auf beiden Seiten?" (1. Könige 18,21) Man konnte nach Calvins Auffassung nicht ewig zwischen dem Herr Gott und Baal zögern, sondern musste sich bekennen. Calvin hatte es längst aufgegeben, die katholische Kirche von innen reformieren zu wollen, und forderte deshalb Alle, die die Wahrheit des reformierten Glaubens eingesehen hatten, zur Flucht auf. Damit verlangte er nicht mehr, als was er selbst bereit gewesen war, zu tun (siehe Anhang II >>>). Blieb ein offen bekennender Protestant in Frankreich, drohte ihm der Scheiterhaufen.
Deshalb muss an dieser Stelle der Versuch unternommen werden, die Frage zu beantworten, inwieweit Marguerite von Navarra insgeheim eine Protestantin war. Sie blieb in der katholischen Kirche, weil sie ihren Bruder liebte, und seine Stellung als Oberhaupt der gallikanischen Kirche respektierte. So viel ist klar. Aber auch nach dem Tod ihres Bruders hatte sie einen Franziskaner als Beichtvater und empfing das Sterbesakrament aus dessen Händen. Wäre sie insgeheim eine Protestantin gewesen, hätte sie spätestens auf dem Sterbebett auf geistliche, katholische Hilfe verzichten können, wie viele es damals taten.
Die Kirchenkritik, die die Königin von Navarra im Heptameron äußert, ist mit dem Humanismus innerhalb des Katholizismus vereinbar, wie Erasmus und Bischof Briçonnet in Meaux mit seinem Kreis von Männern wie Lefèvre d´Etaples, Guillaume Farel und Gérard Roussel ihn propagierten. Die Königin wollte alle die berechtigten und guten reformatorischen Ansätze mit ihrem katholischen Glauben verbinden und so die katholische Kirche von innen reformieren. In diesem Sinn wirkte der von ihr eingesetzten Bischof von Oloron, Gérard Roussel, in Navarra, in seiner Diözese. Calvin war zutiefst traurig und enttäuscht darüber, dass Roussel in der Kirche als Bischof blieb. Aber Roussel versuchte, ganz im Geist von Marguerite das Gute aus der Reformation in der katholischen Kirche zu erhalten. So teilte er das Abendmahl in beiderlei Gestalt aus, und gerade hier liegt vielleicht der Grund für Marguerites Verbleiben in der katholischen Kirche: in Frankreich trennten sich die Geister in der Abendmahlsfrage.
Für die Katholiken war es wichtig, dass in dem Augenblick, als der Priester die Einsetzungsworte 1. Korinther 11, 23-25 aussprach, die Wandlung von Brot und Wein ins Fleisch und Blut Christi vollzogen wurde. Das Opfer Christi auf Golgatha wurde damit wiederholt und die Gläubigen konnten sicher sein, dass Gott selbst unter den Menschen wohnte. Deswegen wurde bei den Fronleichnamsprozessionen die Hostie in aller Ehre und Andacht angebetet. Für die Protestanten dagegen – und das war lange vor Calvins Zeit, als Zwinglis Lehre schon großen Einfluss in Frankreich hatte – war Gott keinesfalls in der Hostie gegenwärtig. Die Protestanten spotteten über „einen Gott aus Teig“, sie schmückten weder ihre Häuser für die Fronleichnamsprozession noch schlossen sie sich ihr an, sondern sie feierten das Abendmahl als Erinnerung an das einmalige Opfer Christi und als Zeichen ihrer Zusammengehörigkeit um den Tisch des Herrn. Sie galten in Frankreich als Sakramentarier, und weil sie die Gegenwart Gottes in der Hostie, und damit im Land, im Frankreich, verneinten, begingen sie praktisch Landesverrat. Der König von Frankreich, der sich der allerchristlichste nannte, war Oberhaupt der Kirche und durch seine Salbung bei der Krönung war er gottgeweiht. Er konnte z.B. mit einer Berührung Kranke heilen. Diese Verbindung von Gott, König und Vaterland zeigt der katholische Kampfruf: „Ein Gesetz, ein König, ein Glaube!“
Weil die Messe von Protestanten als Götzendienst aufgefasst wurde, flüchteten sie nach Straßburg, wo Calvin ein paar Jahre lang die französische Flüchtlingsgemeinde als Pastor betreute, und dann später nach Genf. Der Ausweg, den das Heptameron in den Prologen und Epilogen nahelegt: zuerst in der Bibel zu lesen und Psalmen zu singen, um dann in die Messe oder zur Vesper zu gehen, war für viele Protestanten zu sehr ein Kompromiss mit der Abgötterei.
Im Heptameron kommt das Abendmahl sehr selten vor: im Prolog >>> wird an einer Stelle geschildert, wie die Gruppe „das heilige Sakrament“ empfängt, „in dem alle Christen vereint sind“. Oder später, in der Debatte zu Novelle 61 >>>, heißt es:
„… das heilige Sakrament, welches, wenn man es nicht gläubig und in christlicher Demut empfängt, zu ewiger Verdammnis reicht.“
In keiner dieser Aussagen berührt die Königin die konfessionstrennende Auffassungen, im Gegenteil, sie hat es vorsichtig unterlassen, zumal die Verfasserin des Prologs nicht sie selbst sein muss, und es Hircan ist, der sich in Novelle 61 ausspricht.
1549 starb Marguerite, gewissermaßen rechtzeitig, bevor die Religionskriege in Frankreich jede Möglichkeit eines dritten Weges ausschlossen. Bischof Roussel wurde 1550 von einem aufgebrachten Katholiken umgebracht. Marguerites Tochter, Jeanne d´Albret, wurde 1560 überzeugte Hugenottin und nahm an den Religionskriegen teil.
Das Verständnis, das Marguerite für die Reformation und deren Anhänger aufbrachte, kann man im Briefwechsel der Reformatoren deutlich erkennen. Die Reformation in Frankreich hat ihr viel zu verdanken, und vielleicht gelang es ihr, so vielen Protestanten zu helfen, gerade weil sie katholisch blieb.
Anhang I: Die Ausgaben des Heptameron >>>
Anhang II: Von der Theologie >>>
Anhang III: Die Psalmen >>>
Anhang IV: Kanada >>>
Literatur
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Arnold, Matthieu (hrsg.): Quand Strasbourg accueillait Calvin 1538-1541, Catalogue réalisé sous la direction de Matthieu Arnold, Bibliothèque nationale et universitaire de Strasbourg, Faculté de Théologie protestante, Strasbourg 2009
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Lenselink, Samuel Jan: Les Psaumes de Clément Marot, Édition critique du plus ancient texte (ms. Paris B.N.Fr. 2337) avec toutes les variantes des manuscrits et des plus anciennes Éditions jusqu´`a 1543, accompagnée du texte definitive de 1562 et precede d´une etude. Assen 1969
Macculloch, Diarmaid: Die Reformation: 1490-1700, München 2008
Martineau-Genieys, Christine: La Lectio Divina dans l´Heptaméron, in: Etudes sur l´Heptaméron de Marguerite de
Morison, Samuel Eliot: The European Discovery of
Schlesinger, Roger & Stabler, Arthur P.: André Thevet´s North America, a Sixteenth Century View,
Salminen, Renja: Une nouvelle lecture de l´Heptaméron: le manuscript 2155 de la Bibliothèque Nationale de Paris in: Marguerite de Navarre 1492-1992, Actes du Colloque international de Pau, Mont-de-Marsan 1992
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Screech, M. A.: Clément Marot, A Renaissance Poet Discovers the Gospel, Lutheranism, Fabrism and Calvinism in the royal courts of
Wanegffelen, Thierry: Ni Rome ni Genève, Des fidèles entre deux chaires en France au XVIe siècle, Paris 1997
©Merete Nielsen, Göttingen
Die Herzogin von Alençon und Königin von Navarra war humanistisch geprägt und hielt ihre schützende Hand über Humanisten, Lutheranern und Reformierten in Frankreich.